Datenpolitik #27: Regierungsverhandlungen auf ewig im Neuland
Digitalpolitik wird mit Bildung und Haltung verbrämt. Dabei Digitalisierung ist bloß Professionalisierung, und Algorithmen sind auch nur Bürokratie.
Diese Woche tagte man wieder im LIBE-Ausschuss des EU Parlaments, in dem unter anderem unter dem Sammelbegriff der Bürgerlichen Freiheiten relevante Digitalregelungen verhandelt werden. Ein Tagesordnungspunkt: ein Update zu Um- und Durchsetzung des AI Acts. Wie diskutieren Europas Abgeordnete die vermeintlich fortgeschrittenste Digitalregelung Europas?
Es ist ernüchternd.
Sie sind auf ewig im Neuland
Michael McNamara, neu designierter „AI overseer“, verhaspelte sich uninspiriert einige Minuten lang in Terminen und Entschuldigungen. Schlau wurde man daraus nicht; als Zuseher wollte man ihm eher zurufen: „Leute, das ist öffentlich! Livestream, Video on Demand und so!“ Er hätte auch das mit einem geduckten Lächeln abgewehrt, mit einer Miene, die nichts anderes vermittelt als: „Ich bin froh, wenn das vorbei ist.“
Schlauer wurde man aus den Anmerkungen und Fragestellungen einiger Abgeordneter im Ausschuss: Sie beklagten abgesagte Meetings, fehlende Termine, mangelnden Plan. Marketa Gregorova, tschechische Abgeordnete, meinte, sie erführe Termine für nächste Verhandlungsrunden eher aus den Medien als vom designierten „Overseer“. Die deutsche Sozialdemokratin Birgit Sippel rügte schlechte Organisation (gut, das ist ein deutsches Hobby) und ungenügende Kommunikation. Dabei wären AI-Themen durchaus dringend. Schließlich, sie betonte das, um sicherzustellen, dass auch alle Anwesenden diese Neuigkeit erführen, schließlich habe man in der Zwischenzeit festgestellt, dass AI mitunter lüge. Es sei nicht immer alles richtig, was ein Chatbot antworte oder was in einer AI-generierten Nachrichtenmeldung stünde. Und besonders fortgeschrittene Technologie könne sogar eingesetzt werden, um gefälschte Videos zu produzieren. Sogenannte Deepfakes, die man nur noch schwer von echten Videos unterscheiden könne. Europa habe also keine Zeit zu verlieren …
Es gibt Momente, in denen man vor Fassungslosigkeit innehält. Europa kann digital nicht viel, aber die Europäische Union war stolz auf die Kompetenz, komplexe Technologie zu regulieren. Der AI Act wurde oft als Leuchtturm und visionäres Produkt politischer Gestaltungskompetenz dargestellt. Heerscharen von Lobbyisten, Anwälten, Interessenvertretungen und Beratern fluten täglich die Mailboxen und Social Media-Feeds der interessierten Öffentlichkeit mit neuen Analysen und Empfehlungen. Der AI Act ist eines von mehreren Regelwerken, die den digitalen Diskurs dominieren.
Man hätte sich damit abgefunden, man wäre bereit gewesen, sich mit dem AI Act auseinanderzusetzen und die - durchaus vorhandenen und relevanten Themen - ernst zu nehmen und dem Regulierungsgedanken seinen Stellenwert zu lassen. Dann sieht man die desinteressierten, uninformierten, planlosen Entscheider, die nicht einmal den Anschein von Kompetenz erwecken. Das stellt einiges infrage. Oder das stellt klar: Manche befinden sich auf ewig im Neuland.
Digital mit Zukunftsfimmel
In Österreich laufen Koalitionsverhandlungen an. Digitalisierung findet sich auf der Agenda, als Unterpunkt des Kapitels „Bildung, Innovation und Zukunft“. Dort wird Digitalisierung gemeinsam mit Innovation und Forschung verhandelt. Also mit Themen, die recht weit weg von der Alltagserfahrung der meisten Menschen sind. Innovation und Forschung finden in Laboratorien statt, sie sind zukunftsorientiert, erklären und verändern etwas, sind eine Sache für Experten. Digitalisierung kann all das ebenfalls sein, unterscheidet sich aber wesentlich dadurch, dass Digitalisierung für den überwiegenden Anteil der Menschen längst schon Alltag ist. Digitalisierung betrifft alle jetzt, und das schon seit einigen Jahrzehnten. Für ein Zukunftsthema sind die Schläfen schon sichtlich ergraut.
Eigentlich ist das eine gute Nachricht. Aber es ist eine schlechte Nachricht, dass Politik angesichts von Digitalthemen noch immer hyperventiliert und gerne leuchtende und möglichst ferne Zukunftsszenarien bemüht.
Das erinnert an die Datenparadoxa, die der dänische Wissenssoziologe Klaus Hoeyer beschreibt: Daten und Evidenz sind etwas Tolles, sagen innovations- und bildungsfreundliche Menschen. Daten beantworten Fragen. Man sollte also, statt jetzt schon Antworten zu versuchen, erst Daten sammeln - dann werde sich die Antwort ergeben. Das klingt nach einem nüchternen rationalen Zugang, bedeutet aber die vermeintliche Delegierung von Verantwortung. Man selbst trifft keine Entscheidung, sondern die „Daten sprechen für sich“. Letzteres ist eine Chimäre, Daten sprechen nicht. Die Delegierung der Verantwortung findet auch nur vermeintlich statt, denn tatsächlich liegt die Verantwortung in der Entscheidung, welche Daten nach welchen Kriterien gesammelt und kategorisiert werden und mit welchen Skalen sie gemessen werden. Zur Entstehung und Fabrikation von (wissenschaftlichen) Tatsachen kann man bei Ludwik Fleck, Karin Knorr-Cetina, oder, für die eher naturwissenschaftlich Orientierten, bei Erwin Schrödinger oder Werner Heisenberg nachlesen.
Aber das ufert ein wenig aus. Als Essenz bleibt: Es ist opportun, Themen als Zukunftsthemen zu framen. Das wirkt fortschrittlich - und es rückt den Moment, an dem Ergebnisse geliefert werden müssen und gemessen werden können, in weitere Ferne. Man kann es sich gemütlich einrichten im ewigen Neuland.
Digitalisierung: Intimität und Professionalisierung
Dieser Zukunftsfimmel ist, neben der Beschwörung von Bedrohungs- und Überwachungsszenarien, deutliches Indiz dafür, dass Digitalisierung ein neues Narrativ braucht. Das muss zumindest zwei Eckpfeiler bedienen: Digitalisierung bedeutet Intimität und Professionalisierung.
Warum hat Digitalisierung mit Intimität zu tun? Digitale Kommunikation ist weit mehr als Kommunikation. Messenger oder Social Networks zeichnen auf, was wir schreiben, lesen, ansehen, sogar was wir ignorieren. Viele Paare teilen ihre Smartphone-Zugangscodes nicht miteinander, weil ihnen das Vertrauen in den Respekt des anderen vor der Privatsphäre fehlt, die noch privater ist, als ihre Beziehung. Browser, Suchmaschinen oder Onlineshops wissen, was wir denken, suchen und wie wir es bewerten. All das ist dokumentiert und zugänglich. Telefongespräche sind vergangen (wenn sie nicht abgehört per aufgezeichnet wurden). Briefe sind nicht vernetzt und können ohne persönlichen Zugang zu Wohnung und Briefaufbewahrungsbox nicht entschlüsselt werden.
In all diesen digitalen Spuren und Netzen findet unser Leben statt, wer Zugang dazu hat, kann sich ein Bild machen und kann genauso behaupten, sich aufgrund dieser Hinweise jedes andere vermeintlich fundierte Bild von uns zu machen. Und natürlich werden auch Verbrechen geplant oder (unfreiwillig) dokumentiert. Rechtfertigt das Überwachung? Soll man diesem Minderheitsszenario die digitale Intimsphäre unterordnen? Würden wir so weit gehen, auch die Gedanken der Menschen überwachen zu lassen, erschreckt uns wenigstens noch diese Dystopie?
Zu einem weiteren meiner digitalen Schreckmomente gehört ein Informatik-Seminar, in dem Studierende aufgefordert wurden, irgendeinen ihrer Meinung nach relevanten Einsatz von Technologie zu konzipieren und vorzustellen, ohne Limits und ohne Richtungsvorgabe. Mehr als die Hälfte der Arbeitsgruppen entschied sich für digitale Überwachungsnetze bis hin zum Einsatz von Implantaten, um die Handlungen von Menschen zu kontrollieren, zu belohnen, und in die erwünschte Richtung zu nudgen.
Wir brauchen dringend eine neue Erzählung, die der Intimität der Digitalsphäre gerecht wird.
Warum hat Digitalisierung mit Professionalisierung zu tun? Das setzt am Effizienz- und Automatisierungsgedanken an. Digitalisierung ist Strukturierung, die mit möglichst einfachen Mitteln, letztlich in Kombinationen von Nullen und Einsen, abgebildet werden kann. Digitalisierte Prozesse folgen klaren Abläufen, sind reproduzierbar und skalierbar. Um Abläufe derart strukturieren zu können, müssen sie bewährt und erprobt sein, sie müssen funktionieren, und in der Organisation, die sie durchlaufen, muss Klarheit darüber herrschen, dass genau dieser Ablauf sinnvoll ist.
Das erklärt auch, warum sich einige Branchen mit Digitalisierung leichter tun, andere nicht. Skalier- und Reproduzierbarkeit stehen in krassem Gegensatz zur Wird-schon-passen-Haltung, zum Wird-sich-schon-ausgehen-Mindset und zur Wir-sind-noch-jeden-Tag-fertig-geworden-Einstellung, wie sie etwa in vielen Medienunternehmen vorherrschen, die tagesaktuelle Produktion gewohnt sind. Wozu Dinge ändern, wenn sie funktionieren, wozu längerfristig planen, wenn es auch heute wieder ein Ergebnis gibt?
Digitalisierung kann natürlich auch ad hoc erfolgen. Das ist allerdings Verschwendung. Es ist nicht der Sinn der Sache, auf das Trägermedium Papier oder auf Face-to-face-Meetings zu verzichten, sondern Abläufe so zu organisieren, dass sie auch ohne täglich neuen menschlichen Input funktionieren. Viel beklagte Bürokratie ist vor allem dort ein Hindernis, wo Abläufe nicht ausreichend professionalisiert sind und wo die Kompetenz der handelnden Personen nicht ausreicht, um Hindernissen zu begegnen.
Das setzt insofern Professionalisierung voraus, als Organisationen funktionieren müssen. Genie- oder Management-Kulte, die flexibel auf die Eingebungen einer Führungsperson reagieren sollen, sind in dieser Hinsicht unprofessionell. Digitalisierung ist keine Sache für vermeintlich starke Führungsfiguren, die Visionen in den Raum werfen und Organisationen ihren Stempel aufdrücken wollen. Digitalisierung ist ein sachliches Nerd-Thema, das dann am gelungensten umgesetzt ist, wenn es sich wie von selbst ergibt.
Wenn die Frage im Raum steht, warum es denn überhaupt Digitalisierungsverantwortliche braucht, dann haben diese ihren Job am besten gemacht. Algorithmen sind letztlich auch nur Bürokratie für Daten, die mit einer Vielzahl von Regeln alle Eventualitäten zu klären versucht.
Auch das sind Hinweise dafür dass Digitalisierung ein neues Narrativ abseits von Innovations- und Zukunfts-Kulten braucht. Das ist eine Voraussetzung, um sinnvolle Entscheidungen treffen zu können.