Datenpolitik #29: Interstellar abstrakte UN-Datenprinzipien
Das neue UN Framework for Actionable Data offenbart das schwierige Verhältnis von Politik, Technik und Bürokratie.
Algorithmen sind auch nur Bürokratie für Daten. Umgekehrt lässt Bürokratie algorithmische Präzision oft vermissen. Das gilt umso mehr, je näher Bürokratie an der Politik ist - und je mehr Machtfragen ins Spiel kommen. Auf die Spitze getrieben ist diese Scheinpräzision im UN-Diplomatenspeak. Und bedenklich wird das, wenn über inhaltsgeleert-verallgemeinerten Diplomatenspeak Technik reguliert werden soll.
UN Framework for Actionable Data
Das UN Data Forum verabschiedete vergangene Woche nach der jüngsten Tagung in Medellin einen neuen Action Plan, ein Framework for Actionable Data, das die Nutzung von Daten im Rahmen der Sustainable Development Goals fördern soll. Das knappe Dokument enthält viel Struktur, Präambeln, Punkte und Unterpunkte. Das vermittelt den Eindruck eines konkreten Plans. Aus der Perspektive von PolitikerInnen mag das so sein. Mit einer technischen Brille gelesen sind solche Dokumente unfreiwillige Anschauungsbeispiele für die Diskussion von Techno-Determinismus oder sozialer Determiniertheit von Technik. Der Actionplan listet konkrete Kriterien auf, die künftige Data Science und Statistik erfüllen soll. Politik gibt die Richtung vor - Soziales determiniert Technik. Die Menge möglicher technischer Lösungen aber, die diesen Anforderungen gerecht werden können, ist unendlich. Jedes beliebige Data Governance-Konzept, jede Analyse, jedes Tracking- oder Statistik-Konzept kann diesen Anforderungen gerecht werden.
Technik kann all das leisten. Bestimmt jetzt Technik die Politik? Oder ist Technik, wie manche meinen, politisch neutral, nie "böse", und Technikfolgen liegen immer in der Verantwortung des Anwenders? In der Neutralität, die allen bürokratischen Auflagen gerecht werden kann, liegt eben die politische Dimension von Technik: Man kann alles daraus machen. Deshalb muss man gründlich ausverhandeln, was genau das sein soll.
Ich bin mir nicht sicher, ob Bürokraten, die Papiere wie den neuen UN Action Plan formulieren, das einschätzen können. Das Papier konstruiert mit vier Haupt- und jeweils drei Unterpunkten einen diplomatisch fein austarierten Dodekaeder, dessn konkrete Bedeutung und Anwendbarkeit sich aber ebenso wenig erschließt wie die seiner römischen Artverwandten (die ja vielleicht doch auch nur Glücksspiel-Devices waren).
Was steht im UN Datendodekaeder?
Daten treiben Innovation voran. Das ist der erste Hauptpunkt, der sich in die Unterpunkte Innovation, Inklusion und Use & Reuse unterteilt. Innovation an sich ist bereits ein mehr als interpretierbarer Begriff. Vermutlich wird mit diesen Schlagworten auf problembezogene Lösungsorientierung angespielt.
Wert und Anwendung ist der zweite Hauptpunkt. Seine Unterkapitel sind Zugänglichkeit von Daten, Kommunikationsstrategien und Data Literacy. Hier steht also die Demokratisierung von Daten im Vordergrund.
Vertrauen und Ethik ist die dritte große Überschrift. Ethische Daten, Datenschutz und Vertrauen sind die weiteren Unterkapitel. Daten sollen also gut sein. Oder gilt ein wissenschaftlicher Ethikbegriff, der Ethik als Prinzip und Framework betrachtet und von Moral zu unterscheiden weiß?
Der letzte Punkt ist mit der Entwicklung von Partnerschaften zur Ausbildung von Datenkapazitäten überschrieben und unterteilt sich in Koordination, Nachaltigkeit und Resilienz.
Keinem dieser Unterpunkte sind in dem Dokument mehr als zwei Zeilen gewidmet. Das diplomatische Ringen um solche Erklärungen ist sicherlich zäh. Aber welche Erwartungen sind damit verbunden? Es wäre sicher kein leichtes, auf UN-Ebene sinnvolle konkrete Prinzipien für Data Science und Statistik festzuschreiben. Man könnte es auch als Haarspalterei abtun, über mögliche Interpretationen solcher auf interstellarer Flughöhe formulierten Prinzipien nachzudenken. Wären da nicht konkrete Interpretationen solche Prinzipienräume, die, vorrangig von totalitären Staaten, sehr schnell ausgegeben werden.
Abstraktion und der Raum für Missbrauch
UN-Positionen zu Daten und Digitalisierung waren in den letzten Monaten keine Glanzleistungen. Der Global Digital Compact blieb vage genug, um keine Befürchtungen auszuräumen, sie aber auch nicht zu bestätigen. China outete sich prompt als Fan dieses Papiers, begrüßte Multilateralismus als das Recht, sich gegen Einmischung von außen zu wehren, betonte Menschenrechte, deren wichtigstes das Recht auf wirtschaftliche Entwicklung sei und bekräftigte das Eintreten für freien Datenfluss. Dieser fließt allerdings nur in eine Richtung; der Abfluß von Daten aus China wurde erst vor kurzem durch neue Restriktionen begrenzt.
Die UN Cybercrime Convention appeliert an einen dichten Dschungel anderweitig formulierter Prinzipien, die einen Rahmen vorgeben sollen, der klarstellen wird, dass ausgeschlossen werden soll, dass die Convention gegen Demokratie und Freiheit verwendet werden kann. Diese abstrahierende Ausweichbewegung liefert Russland und China Argumente an die Hand, sich bei der Verfolgung politischer Dissidenten auf UN-Prinzipien zu berufen. Denn was ein nach der Cybercrime Convention zu verfolgendes Verbrechen ist, bestimmen im Sinn des Multilateralismus Nationalstaaten. Die Convention würde andere Staaten dazu verpflichten, bei der Verfolgung zu helfen - demnach müssten also etwa auch digitale Überwachungsmaßnahmen von russischen Regimekritikern in Österreich durchgeführt und deren Ergebnisse weitergegeben werden. Die UN Generalversammlung hat die Convention angenommen. In den Nationalstaaten ist sie noch nicht umgesetzt. Ein Nein zur Umsetzung in Österreich sollte relevantes Thema digitalpolitischer Programme in den aktuellen Regierungsverhandlungen hierzulande sein.
Eine schwache Organisation wie die UN krankt am Mangel konkreter Prinzipien und formuliert mehr und mehr Grundsätze, die es allen recht machen sollen und alles und nichts bedeuten. Das kann zunehmend zum Problem werden, vor allem in einer Welt, in der liberale demokratische Grundsätze nicht selbstverständlich sind.
Wer keine Prinzipien hat, sollte sie auch nicht formulieren. Sich die Blöße eine konkreten Forderung zu geben, wäre weniger diplomatisch, aber sachlich klüger.
Data Revolution - schon wieder?
Im Kleinen sehen wir das auch in Ankündigungen und Arbeitsprogrammen auf EU-Ebene. Die aktuellen Political Guidelines der Kommission (das war von der Leyens Wahlprogramm) enthalten ebenfalls ein knappes digitalpolitisches Kapitel, das recht pragmatisch der Produktivitätssteigerung gewidmet ist. Hier ist viel Haltung ("Tech giants must assume responsibility"), AI (ein European AI Research Council und die ebenfalls bereits öfters wiederholte Ankündigung von AI Factories) und viel Strategie, erwähnt werden eine AI Strategy und eine European Data Union Strategy. Bei letzterer bin ich mir nicht sicher, ob das ein Tippfehler ist; umgekehrt (European Union Data) würde es mehr Sinn machen, die Formulierung von der Data Union findet man allerdings öfters.
Sicher ein Tippfehler allerdings ist folgendes: "Through our Artificial Intelligence (AI), Europe is already leading the way on making AI safer". Eine eigene europäische AI, noch dazu führend? Hier wurde das Wörtchen "Act" vergessen. Denn der EU AI Act ist bislang das einzig Spezifische, das die EU zum AI-Themenkomplex beigetragen hat. Teil der Data Union Strategy soll, so interpretieren Beobachter Ankündigungen, der Wechsel von der Regulierungsorientierung in Tech-Themen hin zu mehr praktischen Schwerpunkten sein. Leicht misstrauisch darf man sein, wenn diese Veränderung im Arbeitsprogramm mit "Data Revolution" überschrieben ist. Von dieser Revolution reden wir seit bald fünfzehn Jahren.
Kommt die Ausweispflicht über Altersbeschränkungen?
Wir haben diese Woche noch eine dritte Gelegenheit, das schwierige Verhältnis von Politik, Bürokratie und Technik zu beobachten. Australien hat Social Media-Beschränkungen für Jugendliche angekündigt. Das birgt technischen Sprengstoff. Grundsätzlich wäre eine Altersverifikation leicht umzusetzen - Klarnamen, Ausweispflicht, fertig. Onlinebroker machen es vor. Es wäre allerdings ein fatales Signal, grundlegende Dienste wie Social Media mit so weitreichenden Einschnitten wie einer Ausweispflicht zu verknüpfen. Das schafft die Grundlage für die ultimative Überwachungsinfrastruktur, der nichts mehr entgeht und die in Sekundenschnelle jede Onlineäußerung einer realen Person zuordnen kann.
Denn Social Media sind nicht nur Ort trolliger Diskussionen, mit Social Accounts sind relevante Messenger verknüpft und Social Logins verbinden die Accountinformation mit zahllosen weiteren Services. Wer in einem Social Network identifizierbar ist (was auf den Großteil der User unvorsichtigerweise ohnehin zutrifft, mich eingeschlossen), ist in seinem gesamten digitalen Leben identifizierbar. Das kann schnell zum Problem werden, nicht zuletzt dank gedankenloser Regelungen wie der vorhin angesprochenen UN Cybercrime Convention.
Schafft Australien also im Namen des Jugendschutzes die digitale Privatsphäre insgesamt ab? Nein.
Denn die große politische Ankündigung bleibt technisch außerordentlich vage. Es wird keine Strafen für Jugendliche geben, die das Verbot umgehen. Es wird auch keine Konsequenzen für Social Networks geben, denen der eine oder die andere Jugendliche durch die Lappen geht. Und es gibt auch noch keinen Plan, was genau zu tun sein wird. Social Networks sollen geeignete Maßnahmen treffen, um das Anlegen von Accounts durch Jugendliche zu verhindern.
Die Politik hat einen großen Wurf, Technik wundert sich, für die Bürokratie, die zumindest den Anschein klarer und nachvollziehbarer Regelungen erwecken muss, ist das ein Höllenszenario. Und so wie die UN Datenprinzipien, die abstrakter bleiben als die schwarzen Quadrate eines Malewitsch, wird auch die australische Social Media Regelung als Blaupause in alle Richtungen - für Internetverbote, gegen Regelungen, für dezente Eingriffe, gegen digitale Freiheiten - verwendet werden können. Je abstrakter sie bleibt, desto besser wird sie für diesen Zweck geeignet sein.
Das ist ein Problem. Technik braucht klare Regeln - oder gar keine. Alles andere ist bloße Politik und Ausdruck einer Willensbekundung, die für alle Zwecke missbraucht werden kann.
EU-Ungarns Last Exit Chatkontrolle
Das fast schon wöchentliche Memento bleibt auch diese Woche nicht erspart: die Chatkontrolle ist noch nicht vom Tisch. Die ungarische EU-Ratspräsidentschaft, die die Messengerüberwachung zur Entscheidung bringen wollte, hat vergangene Woche eine Abstimmung erzwungen - und ist gescheitert. Jetzt soll kommende Woche bei Treffen der Justiz- und Innenminister noch einmal abgestimmt werden. Dann ist die ungarische Präsidentschaft vorbei, Überwachung als politisches Thema wird uns noch länger erhalten bleiben.